In der Pandemie hat die psychische Belastung zugenommen. Viele Menschen rätseln: Wie schlimm muss es mir gehen, bis ich Unterstützung suche?

Doch diese Frage hilft nicht weiter!

Die Covid-19-Pandemie hält uns weiter fest im Griff. Und die Massnahmen zu ihrer Eindämmung schlagen mit zunehmender Dauer immer mehr Menschen aufs Gemüt. Soziale Isolation, die Doppelbelastung durch Kinderbetreuung und Home-Office, die Angst um den Arbeitsplatz oder vor einer Ansteckung, ganz zu schweigen von der unklaren Aussicht, wann das je wieder aufhört – sie belasten die Psyche.

Es leiden rund ein Drittel der Deutschen psychisch unter den Folgen des Lockdowns.

So mancher stellt sich derzeit die bange Frage: Wo liegt meine eigene Belastungsgrenze? Wie schlecht muss es mir gehen, dass etwas passieren muss? Oft schwingt dabei die Idee mit, es gebe eine Schwelle des Leidens, ab der man sich um Abhilfe bemühen sollte. Aber das ist, als wollte man erst dann Sport treiben, wenn man so übergewichtig oder unfit ist, dass man schon bei geringer Bewegung nach Luft schnappt.

Psychische Störungen entstehen nicht plötzlich.

Sie wachen nicht eines Morgens auf und haben eine depressive Erkrankung, erklärt Marcus Neuzerling, M.Sc. «Das ist ein schleichender Prozess.»

Die Folge: Wie der Frosch im langsam heisser werdenden Wasser bekommt man gewisse Symptome oft erst mit, wenn sie aus eigener Kraft nur noch schwer zu beheben sind. Daher auch das grosse Dilemma der psychosozialen Versorgung: Gerade jene, die es am nötigsten haben, unternehmen oft nichts. Wer morgens nicht aus dem Bett kommt oder täglich von Hoffnungslosigkeit oder Panik ergriffen wird, der findet kaum die Kraft, Yoga zu machen, sich etwas Gutes zu tun oder eine Therapie zu beginnen.

Fliessender Übergang zur Krankheit

Psychiatrische Diagnosen legen konkrete Merkmale etwa einer Angststörung oder einer Depression fest. Wer länger als zwei Wochen deutlich verstimmt und antriebslos ist, sehr viel grübelt, schlecht schläft und nichts geniesst, der hat ein Problem. Solche Kriterien sind vor allem von praktisch-medizinischem Nutzen, damit denjenigen geholfen wird, die es besonders brauchen. Es handelt sich allerdings nicht um feste, naturgegebene Grenzen, sondern sie werden definiert, um eine Diagnose stellen zu können.

Der Übergang zwischen normal und gestört ist jedoch fliessend, sagt Marcus Neuzerling.

Für den Einzelnen bedeutet das: Entscheidend ist der subjektiv empfundene Leidensdruck. Wer den Eindruck hat, dass es ihm helfen könnte, sollte sich Unterstützung suchen, ob im Gespräch mit Freunden, in einer psychologischen Praxis, beim Arzt oder beim Psychologen. Vor allem aber gilt es, präventiv tätig zu werden und Selbstfürsorge zu betreiben.

Wie Marcus Neuzerling, M.Sc. betont, sollte man negative Gefühle oder Probleme nicht verleugnen, sondern frühzeitig gegensteuern. Wer auf eine kritische Schwelle warte, der riskiere, dass es dann bereits sehr schwer sei, das Ruder herumzureissen.

Zwar gebe es durchaus auch das gegenteilige Phänomen – zu viel Konzentration auf die gegenwärtigen Belastungen könne dazu führen, dass diese noch schwerer erschienen. Doch zu verdrängen, zu bagatellisieren und auf spontane Besserung zu hoffen, sind laut Neuzerling die häufigeren Reaktionen.

Ist das noch normal oder schon gestört?

Allerdings ist hier ein deutlicher Geschlechterunterschied zu beobachten. Männer schieben Probleme besonders gern beiseite, Frauen setzen sich eher damit auseinander, gehen auch früher zum Arzt oder zum Therapeuten. Das dürfte einer der Gründe dafür sein, warum die Quote der diagnostizierten Depressionen beim weiblichen Teil der Bevölkerung weit höher liegt – und die Lebenserwartung von Frauen die von Männern übersteigt.

Zum Glück gibt es zwischen «Augen zu und durch» und einer intensiven Therapie viele Möglichkeiten: sich informieren, sich mit anderen austauschen, auf einen geregelten Tagesablauf mit festen Auszeiten achten, sich neue Beschäftigungen suchen oder lange vernachlässigte Hobbys wiederaufnehmen.

Wichtiger als die Frage, wo genau die Grenze des Zumutbaren liegt, ist es laut Marcus Neuzerling , etwas für das eigene Seelenwohl und eine stabile Psyche zu tun. Dazu zählt vor allem, aktiv für Momente des Wohlbefindens zu sorgen.

Oft stehen uns wichtige langfristige Ziele beim Abschalten im Weg. Wer jedoch in der gegenwärtigen Pandemie an hohen beruflichen oder privaten Ambitionen festhalte, den plage oft das schlechte Gewissen, sagt Marcus Neuzerling. Denn unter den erschwerten Corona-Bedingungen könne nicht alles perfekt laufen.

Doch kann man sich vornehmen, abzuschalten?

Man stellt fest, dass bewusst eingelegte, quasi «genehmigte» Pausen seltener von Bedenken unterbrochen werden als spontane Auszeiten. «Die bewusste Entscheidung, jetzt abzuschalten oder etwas für sich zu tun, hilft dabei», sagt Marcus Neuzerling.

Selbst die beste Vorbeugung oder Therapie kann akute Belastungen jedoch nicht aus dem Weg räumen. Unsicherheiten und Risiken bleiben. Aber man findet vielleicht einen Weg, sie etwas leichter zu nehmen. Die Vorstellung, man könne relaxt durch die Krise kommen, weckt falsche Hoffnungen. Im schlimmsten Fall geben einem die in den Medien allgegenwärtigen Tipps und gutgemeinte Ratschläge von Freunden sogar das Gefühl, an der eigenen Misere selbst schuld zu sein.

Marcus Neuzerling, M. Sc.
November 2021

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